Interview mit Peter Erni
von David Clavadetscher, Februar 2003
Sein grosses Interessenspektrum lässt Peter Erni (*1942) zahlreiche Tätigkeiten ausüben. So arbeitet er heute als Autor, Gestalter, Lehrer und Architekt. An der Universität Basel und ETHZ wurde er zum dipl. Architekt ETH SIA ausgebildet. Von 1987 bis 1999 führte er sein eigenes Atelier für Gestaltung und Architektur. Hinzu kommt eine vielseitige Lehrtätigkeit an verschiedenen Ausbildungszentren der Schweiz. Zudem verschiedene publizistische Tätigkeiten in Fach- und Tagespresse, wie diverse Bücher. 1995 gewann er die ‘Auszeichnung Guter Bauten’ des Kantons Luzern und eine Auszeichnung des EDI, ‘prämierte Schweizerplakate des Jahres’. Als seine Hauptinteressen gelten: Bildarbeit, Schreibarbeit, Handarbeit; Erkenntnistheorie, Bildtheorien, Wissenschaftstheorie; kulturelle Phänomene jenseits von Kunst und Kampf.
 
Peter Erni, warum gestaltest Du, was ist Deine Antriebskraft?
Es gibt Menschen, die mit ihrem Kanu den Amazonas runterfahren; es gibt Menschen die springen an einem Gummiseil über ein Brückengeländer und es gibt Menschen, die gestalten.
Beim Gestalten geht es um ein Fügen von an und für sich losen Anteilen; berührende Ganzheiten stehen im Blickpunkt. Dabei sind viele Unsicherheiten zu überwinden, und der Akt des Forschens, Imaginierens, Entdeckens – bis zu dem Punkt wo eine akzeptable Ganzheit vorliegt – bedeutet für mich ein Abenteuer.
Gestalten ist für mich wie Extremklettern, Gestalten birgt aber auch ähnliche Risiken in sich. Deshalb habe ich grosse Sympathie für grandiose Abstürze – zumal wenn deutlich wird, dass der betreffende Gestalter ein Risiko eingegangen ist.
Bist Du immer motiviert? Man hat ja auch nicht jeden Tag Lust zum Extremklettern...
Nein, leider überfordere ich mich zuweilen. In solchen Situationen macht mir meine Irritierbarkeit einen Strich durch die Rechnung. Ich bemühe mich um grösstmögliche Differenzierung; eine Konsequenz des diffenzierten Umgangs mit dem jeweiligen Sachverhalt ist die unglaubliche Vielzahl der Möglichkeiten, wie das Problem zu lösen wäre. Das zieht Unsicherheiten nach sich.
Die andere Hürde ist die Ungeduld, gegen die ich ankämpfe. Ich möchte schneller am Ziel sein, um mich auf andere Klettertouren einzulassen. Ich habe mich darum zu bemühen, dass der Fokus auf der Sache bleibt und ich nicht, auf andere Sachverhalte schiele.
Woher bekommst Du gestalterische Anerkennung und Bestätigung? Brauchst Du das überhaupt?
Ich glaube, dass alle Menschen Formen der Zuwendung brauchen. Ich brauche sie nicht so sehr, wenn ich bei mir bin. Ich brauche Anerkennung vor allem dann, wenn ich fremdzentriert bin.
Was meinst Du mit fremdzentriert?
Fremdzentriert meint ‘ausgerichtet auf Werteordnungen, Idolatrien und Ziele, die, zumeist zeitbezogen, im Moment aktuell sind und – bei Lichte betrachtet – zu oft den eigenen zuwiderlaufen.’
Zuweilen hat man Tendenz, sich am Trend zu orientieren – ich glaube, deine Generation viel stärker als meine. Junge Architekten, junge Grafic Designers betrachten ununterbrochen Zeitschriften, Publikationen und schauen wie andere mit den gestalterischen Mitteln umgehen. Nicht so sehr, um sich selber zu situieren, sondern vielmehr mit dem Ziel, bei den Leuten zu bleiben und keine Fehler zu machen, was den Status quo des Designs anbetrifft.
Wertekonstellationen ändern sich unablässig: Spitze Schuhe, runde Schuhe, flache Schuhe, keine Schuhe. Insofern stellt sich mir die Frage: Was soll das alles?!
Wichtig ist, dass das Schuhwerk für einen stimmt. Dann ist auch gute ‘allure’ gewährleistet. Wenn das der Fall ist, bist du bei dir. Dann ist auch keine Anerkennung von aussen notwendig.
Es gibt aber immer wieder Phasen, in denen du aus dem eigenen Muster fällst, und dir sagst: "Oh, möchte ich auch." Man ist fasziniert, geblendet und gibt, dem fremden Drängen nach. Dann wird es heikel.
Welche Fähigkeiten erachtest Du für einen Gestaltenden am wichtigsten?
Im Modell dargelegt, glaube ich, dass für gestalterische Tätigkeit zweierlei notwendig ist. Einerseits ein hohes Mass an Anarchie, Regelwidrigkeit, und damit an Fähigkeiten, Ordnungen zu erfahren und zu überschreiten: Uneingeschränkt, unbelastet, voraussetzungslos.
Die andere Tendenz steht dazu in einem Widerspruch – das ist die Schwierigkeit. Gestalterische Tätigkeit erfordert ein hohes Mass an Diszipliniertheit. Diszipliniertheit meint Konzentration, Selbstdisziplin, ein genaues Hinschauen, differenzierteste Wahrnehmung, präzisester Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Zudem: Übung und nochmals Übung.
Müller-Brockmann sagte mir vis-à-vis von Tschichold und den grossen Namen der klassischen Moderne – er war damals über siebzig : "Ja, das ist grossartig. Ich möchte das in meiner Art auch so gut können!". Du siehst, das endet nie. Die Skala ist nach oben geöffnet, wie die Richterskala.
Ist das nicht auch frustrierend?
Ja, das kann schon sein. Du sprichst eine Schwierigkeit an. Je differenzierter der Umgang mit den Mitteln, je differenzierter die Wahrnehmung wird, desto höher wird auch dein Anspruch. Man hätte Sorge zu sich zu tragen und aufzupassen, dass man sich nicht überfordert. Durchaus aus einer gewissen Demut heraus, die nicht zu verwechseln ist mit serviler Haltung. Ich denke an klösterliche Demut: Bei sich sein, sorgfältig arbeiten, massvoll und geduldig – das ist die Voraussetzung zum Masslosen, zu Leidenschaft, Vehemenz, Grenzüberschreitung.
Das Moment der Grenzüberschreitung müsste man sich zur Verfügung halten, nebst der Sorgfalt. Die Sorgfalt, die Zuwendung, die Aufmerksamkeit, die Klarheit. Im Rahmen gestalterischer Tätigkeit geht es – ganz anders als im Design – letztlich um Spiritualität. Das möchte ich jedoch nicht öffentlich so gesagt haben. Die Missverständnisse wären unüberbrückbar. Gestaltung beinhaltet für mich ein sakrales Moment – selbst in der vehementesten Genzüberschreitung. Oder gerade dort. Wider die Indifferenz und die Beliebigkeit – wenn Du das verstehst.
Hast Du beim Gestalten eine bestimmte Methode? Gibt es in Deinem Vorgehen irgendein erkennbares Muster, eine Struktur, die sich wiederholt?
Einerseits hast du jeweils die Möglichkeit zum restlos Spontanen, Impulsiven – wenn du sie hast. Auf diesem Weg passieren Dinge, welche du über die reflektierte Gestaltung gar nicht erreichen kannst. Ein gutes Beispiel sind Flyers. Es gibt unter hundert Flyers einen oder zwei, die ich als Spitzenleistung erachte. Sie sind aus einer Voraussetzungslosigkeit heraus entstanden, unreflektiert, aus dem Moment heraus. – Ich selber habe die Sache zu oft zu wälzen und zu drehen, ich muss mir darüber klarwerden, was die stilistischen Mittel sind. Ich gebe mir Rechenschaft über die Produktionsmittel. Ich lege meine Produkte zunehmend auf meine momentan zur Verfügung stehende Kompetenz und auf meine Werkstattvoraussetzungen an: Maschinen, Material, Werkstatt. Wichtige Impulse kommen von dort her: Die neuen Gestalterschulen sind schlecht beraten, wenn sie Produktionsstätten durch Hobbyräume ersetzen. – Ich bin mittlerweile so weit, dass ich, im Ausführungsgeschehen, den Ausführenden tendenziell nicht mehr zumute, als mir selbst.
Im weiteren gibt es ein Wechselspiel um die Auseinandersetzung im Detail und die Auseinandersetzung im Rahmen der Ganzheit. Dort gilt es auszuprobieren. Das ist zu oft eine Phase der Unruhe. Wenn meine Vorstellungen konturierter werden, erstelle ich eine sogenannte Pilotskizze. Ich veranlasse mich, alles was ich weiss, innerhalb kürzester Zeit gnadenlos auf ein Blatt Papier zu bringen und schaubar zu machen.
Dann die Ausformulierung, jedesmal in Variant-Form, wohlverstanden.
Für mich spielt in diesem Prozess zweimal Zweierlei eine Rolle. Einerseits ist es das Wechselspiel zwischen Involviertheit, Leidenschaft, Emotionalität zum einen und distanzierter Wahrnehmung und sorgfältiger Wertung zum anderen: Was bewirkt das, was ich vorschlage? Wie ist die Sachlage im Bereich des Utilitär-Instrumentalen beschaffen? Aspekte der Nützlichkeit, der Tauglichkeit sind hierbei von grossem Belang. Hinzu kommt die Frage: Wie ist die Sachlage im Bereich des Expressiven beschaffen? Was sagt der entworfene Gegenstand aus?
Entwerfen ist jedesmal ein Erzeugen von Varietät, ergänzt um nachfolgende Einschränkung von Varietät. Voilà, damit hätten wir's auf den Punkt gebracht.
Wie kommst Du zu Ideen? Durch was werden sie ausgelöst?
Das Entwerfen erfordert Generatoren, bewegende Grössen, stimulierende Bilder. Diese sind in den unterschiedlichsten Bereichen unserer Welt zu finden. Was mich umgibt, ist potentieller Generator. So die vielen Ablagerungen, die unsere dinghafte Wirklichkeit generieren, das greifbare Material, altes und neues, das mir täglich vor Augen steht. Andererseits auch fremde Bilder und Dinge, die aus anderen Kulturen kommen. Das ist beim Reisen der Fall, bei kleinen und grossen Ausflügen in andere Welten. Das beginnt bereits im Elsass. Bereits im Baselbiet ist vieles anders beschaffen, im Vergleich zu Luzern. Ferner die Bilderwelten anderer Disziplinen: Naturwissenschaft, Physik, Biologie. Sie sind mir lieb und wichtig.
Du bekommst diese Anregungen und dann macht es einfach Klick?
Ja, aber ich suche nicht, ich finde. Jeder Schritt vor die Türe zieht eine Auseinandersetzung mit dem, was mich gerade beschäftigt, nach sich. Das ist das Abenteuer. Ich befasse mich unablässig mit Gestalt, Form, Ausdruck und zehre von diesem Vorrat.
Du hast über das Schaffen von Ideen gesprochen. Gibt es überhaupt noch Freiräume zur Innovation neuer Ideen, oder gibt es alles schon?
Provokant würde ich sagen, dass es schon alles gibt. Das stimmt natürlich so nicht. Zumindest müsste man als Gestalterin oder als Gestalter der Fiktion anhangen, dass es noch nicht alles gibt. Ob es tatsächliche Schöpfung gibt, ist eine zentrale Frage, die mich beschäftigt. Es gibt Innovation, Neuerungen, diese sind jedoch immer auf Vorangehendes rückführbar.
Aber einmal muss es angefangen haben.
Ja… einmal muss es angefangen haben. Das ist so. Die Mythen berichten darüber. Es macht Sinn, sich mit den Schöpfungsmythen zu befassen.
Mit scheint es sinnvoll, zwischen tatsächlicher Schöpfung und Innovation zu unterscheiden. Im Design gibt es unablässig Innovation. Innovation beruht auf Kombination, Permutation, Variation bereits erarbeiteter Segmente. Nicht alles kann Schöpfung heissen, was neu miteinander verbunden und neu aufeinander abgestimmt ist. Wenn ich mir den grauen Tisch, an dem wir sitzen, rot vorstelle, dann ist das Innovation.
Tatsächliche Schöpfung kann es schon geben, das geschieht jedoch eher selten. Eine Tätigkeit, ein Ding neu imaginieren, gänzlich neue Konzeption – eine gänzlich neue Auffassung des Zusammenspiels neuer Segmente zu entwickeln, das wäre Schöpfung.
Es gibt in der Architekturgeschichte im 20. Jahrhundert tatsächlich einen Schöpfer, den ich echt bewundere. Jeannerets Entwürfe beinhalten eine fundamentale Neuerung. Das ist dicke Post. Dass das jemand in Lebensfrist schafft: Wunderbar.
Was für eine Rolle spielt bei Dir der Kunde? Ich weiss nicht, wie stark Du mit Kunden zu tun hast…
Ich habe bis anhin immer auftragsbezogen gearbeitet. Freies Künstlertum ist mir suspekt. Oft war ich mein eigener Auftraggeber oder die Aufträge kamen aus meinem näheren Umfeld. Insofern bin ich ein Trobriander, ein Südseeinsulaner, ein Schwarzafrikaner, der nicht in erster Linie Gegenstände für den globalen Markt entwickelt, sondern für sein unmittelbares Umfeld. – Da kommen die 68er Jahre hinzu, Vorbehalte gegenüber den Gesetzen des Marktes. Es ist mir ein grosses Anliegen, für andere ein Sinnvolles zu tun, im kleinen Netz.
Was für ein Mitspracherecht hat denn der Kunde?
Ich kann Dir nur die ideale Situation aufzeigen. Diese ist, wenn der Auftraggeber sagt: "Du bist der Gestalter, der für mich entwirft, bei mir gibt es keine vorgängigen Evaluationen punkto Preis und Leistung. Du bist es, und ich trete mit Dir in ein hierarchieloses, in ein dialogisches Verhältnis." – das führt in der Regel zu den besten Resultaten.
Wenn ich als Auftraggeber selbst Aufträge zu vergeben habe, halte ich dies nicht anders. Ich bin Hierarchien und Besserwisserei gegenüber allergisch. Ich habe es fürchterlich ungern, wenn ich mich dazu veranlasst sehe, jemandem etwas aufzuzwingen oder wenn jemand meint, er könne mir etwas aufoktroyieren. In der Regel hat er keine Chance. Allenfalls gebe ich den Auftrag, ohne böse Worte, zurück: Indem ich gehe, ist die Ordnung wieder hergestellt.
Wenn sich hingegen ein gutes Wechselspiel anbahnt, und dies Wechselspiel auf Gelassenheit und auf Tönung fusst, dann ist es eine Freude. Freilich, dies ist nicht die Regel. Und deshalb suchen sich viele Gestalter und Architekten, in ein Hochgefühl zu katapultieren. Zwecks Selbstbehauptung ist ihnen jeder Dünkel recht. Lächerlich. Ein gutes Beispiel: Jean Nouvels Auftritte: ‘feudale attitude’ – der König spricht. Andere Beispiele gibt es zuhauf.
Ist das ein Schutzmechanismus?
Ja, ausgesprochen. Meine Beobachtung ist, dass diese Allüren selbst auf private Bezüge abfärben.
Ausserdem kommt hinzu, dass heutzutage Erwähntes noch überdeckt und verunklärt wird durch sogenannte ‘soziale Kompetenz’. Man lernt an den Schulen, wie man den Kunden anbindet und schlussendlich überredet. Aber ich möchte eigentlich nie mein Gegenüber überreden müssen. Das verbietet mir meine Souveränität. Ich finde nicht viel Freude daran, andere über den Tisch zu ziehen.
Aber Du möchtest schon das machen, was Du als gut erachtest und dem Kunden aufzeigen, dass das gut ist.
Ja, aber was der Kunde ins Gespräch einbringt, nehme ich äusserst ernst. Wenn der Kunde mir ein bestimmtes Anliegen umschreibt und das Wechselspiel, dieser Austausch zwischen uns, eine Qualität erlangt, erfahre ich überraschend Neues, auf Grund anderer Optik, und bringe das mit dem, was ich aus meiner Kompetenz heraus zeigen kann, zusammen.
Offen gesagt, ich habe Mühe mit dem Wort ‘Kunde’: mit der Herkunft des Wortes. Schau einmal bei Ernst Bornemann nach!
Gestalten scheint mir ein zeitlich schwer berechenbarer Vorgang. Eine Idee kann endlos weiterentwickelt werden. Wie merkst Du, wann es Zeit ist, eine Arbeit abzuschliessen?
Das ist ein Geheimnis. Das Geheimnis besteht darin, dass über ein Erwägen, Wahrnehmen, Betrachten, neu Denken, neu Imaginieren, anderes Zeichnen, anderes Simulieren, der Moment kommt, wo es – verbunden mit einem gewissen Herzklopfen – in einem selbst heisst: Das ist gut so. Natürlich nur, wenn der entsprechende Zeitraum zur Verfügung steht und ich tatsächlich bei mir bin.
Die dümmste Situation: Wenn Irritationen von Seite der Ausführenden oder vom ‘Kunden’ her überhand nehmen, oder wenn der Zeitraum für Entscheide eng bemessen ist. Hektik irritiert sorgfältige Eigenbewertung des Entwurfs. Man agiert dann nahezu blind. Vielfach sind grobe Fehler die Konsequenz.
Wie kannst Du die Länge eines gestalterischen Prozesses im Voraus abschätzen? Oder kann man das gar nicht?
Die Länge des gestalterischen Prozesses in einer Auftragssituation ist de facto durch zweierlei gegeben:
Erstens durch den Terminplan, der meistens durch die Anliegen und Auflagen des Auftragsgebers und der ausführenden Produzenten bestimmt werden.
Zweitens – wenn man unternehmerisch denkt – ist sie gegeben durch das Kapital, welches einem für den entsprechenden Auftrag zur Verfügung steht. Heute ist diese Rechnung leider unabdingbar – sie war jedoch nie mein Schwerpunkt. Aus einer Verpflichtung zur Sache heraus, habe ich zu oft viel zu lange am jeweiligen Projekt gearbeitet, am Abend, am Wochenende, während des Urlaubs.
Auf eigene Kosten?
Ja.
Findest Du, dass Du effizient arbeitest?
Nein. Ich arbeite höchst ineffizient. Ich brauche enorm viel Zeit.
Was gäbe es denn zu verbessern, um es effizienter zu machen?
Ich müsste an meiner Persönlichkeitsstruktur und meinen Werteordnungen Wesentliches verändern. Ich müsste beispielsweise gewisse Aufträge und Tätigkeiten strikte ökonomisch angehen. Ich denke nicht daran. Dir sage ich: ‘Wenn Du es schneller schaffst, ist das toll.’ Mir selber sage ich: ‘Du brauchst viel Zeit.’
Dass ich viel Zeit benötige, steht in einer Abhängigkeit zu den vielen Wirklichkeiten, in denen ich mich bewege. Ich schreibe, ich baue, mein Interessenspektrum ist gross: Theorie, Poiesis, Werkstatt, Unterricht.
Hans-Rudolf Lutz, der Grosse Lutz, war beispielsweise fähig, in Sekundenschnelle fulminante Ergebnisse zu erzeugen. Wohverstanden in seinem Kernbereich, in welchem er 30, 40 Jahre lang geübt hat. Selbstverständlich verfüge ich punktuell in den erwähnten Feldern ebenso über Zonen grosser Übung. Vermutlich ist die Vielheit der Tätigkeiten und Interessen bei mir das eigentliche Problem.
Aber im Gestalten hast Du auch grosse Übung…
Ich habe eine Ahnung von Typografie, ich habe eine Ahnung von Architektur, Holz- und Metallbearbeitung. Usw. Ich kann lesen und schreiben. Ich sage das unter dem Vorzeichen einer gewissen Demut. In der Architektur kann ich nie mit jemandem konkurrieren, der in einem Architekturbüro eine Stifti absolvierte, danach ans Tech und an die ETH ging und sich ununterbrochen mit Kostenplanung, Zeugs und Details auseinandergesetzt hat. Kompetenz ergibt sich durch perpetuierliche, permanente Auseinandersetzung mit der Sache. Andererseits: Repetition kann Routine und damit Erstarrung bedeuten.
Gibt es Momente in denen Gestalten für Dich ein Kampf mit Qualen ist? Du hast vorher bereits Irritation und Ungeduld angetönt. Wären das diese?
Das kann man, plakativ, so sagen. Deshalb Phasen sorgfältiger Erwägung, jenseits jeder Ungeduld.
Was sind Deine grössten Probleme und Schwierigkeiten im gestalterischen Prozess?
Die genannten.
Der Gestaltungsprozess ist – wie Du bereits gesagt hast – ein Wechselspiel zwischen dem Schaffen von Vielfalt und deren Reduktion. Eingrenzung durch Entscheidung spielt dabei eine wichtige Rolle. Hast Du jemals Probleme gestalterische Entscheide zu treffen?
Ja, immer. Ich habe immer Probleme. Alle haben dabei Probleme, wenn sie nicht einer zweckoptimistischen Euphorie verfallen sind oder die Sache, als Bürokraten der Gestaltung, technizistisch angehen. Sonst aber gilt: Alle kochen mit Wasser.
Und wie löst Du diese Probleme?
In diesem heiklen Bereich, über Analogien und Assoziationen, die ich mit dem jeweiligen Detail oder der jeweiligen Konzeption verbinde. Ich reflektiere, was meine Gegenstände bewirken, sowohl was ihre expressive als auch was ihre utilitäre Seite anbelangt. Welche Konsequenzen hat mein Handeln? Wie kommt es an? Möchte ich das so haben? Wem rede ich das Wort? Müsste es nicht anders sein? Welche Tendenzen unterstütze ich? Schaffe ich Möglichkeiten, Freiräume, Bewegungsraume, oder binde ich an?
Musst Du das ausprobieren, oder kannst Du Dir vorstellen, wie es aussehen wird?
Beides. Unser Vorstellungsvermögen ist beschränkt. Lösungen zu simulieren ist eine Notwendigkeit. Es ist eine Illusion, zu meinen, dass es Menschen gibt, die sich Bildnerisches vorwegnehmend vorstellen können. Hingegen, konzeptuelle Aspekte: Ich habe ein Tomatenhaus in Arbeit, das ich während meinen sportlichen Übungen konstruktiv-konzeptuell bearbeitet habe, auf dem Velo. Zu Hause habe ich dann in Sekundenschnelle die Pilotskizze angefertigt.
Was sind nennbare Qualitätskriterien, nach welchen Du Gestaltung beurteilst?
Es gibt nach wie vor die utilitären Kriterien. Das gestaltete Produkt – was immer das sein mag – muss meiner Meinung nach seinem Zweck vollumfänglich genügen. Nicht nur illusionär, wie das zumeist im Bereich modischer Attitüden der Fall ist.
Die andere Seite ist die expressive Seite des Gegenstands. Dort zieht das geglückte Ding eine Berührtheit nach sich. Es evoziert Bilder, zeigt eine Sanftheit, es bewegt – selbst wenn es harsch und kantig daher kommt.
Welche Qualitäten evozieren denn eine solche Berührtheit?
Diese Qualitäten stellen sich jedesmal ein, wenn es gelingt, Teile mit Sorgfalt und Leidenschaft zu Ganzheiten zu fügen. Wenn dieses Verbinden, Verknüpfen, Zusammenbringen Sorgfalt vermuten lässt und Intensität, grosse Leidenschaft, oder die Verbindung von beidem, stellen sich diese Qualtäten ein.
Qualität hängt grundsätzlich nicht von den Mitteln ab, sonder von der Art und Weise, wie ich das Ausgewählte füge. Ich beuge Verben, damit sie sich in einen Satz integrieren, so dass nicht nur korrekte Sätze, sondern gute Sätze entstehen. Lieber bewegende Sätze – lediglich korrekte sind langweilig.
Findest Du Deine Arbeiten gut?
Es gibt in regelmässigen Abständen ein Hadern mit sich selber, und es gibt immer Aspekte des Ungenügens. Man genügt dem, was sein könnte, eigentlich nie. Radikalste Bewertungsmassstäbe sind kein Beitrag zum Glück. Beachte doch, dass selbst der Herrgott, als er die Welt erschuf, nicht alles vollumfänglich durchdachte – sonst wäre Vieles besser beschaffen.
Gibt es zeitloses Design?
Es gibt zwei- und dreidimensionale Objekte, die in ihrer zurückhaltenden Art eine Zeit überdauern können und von Strömungen und Tendenzen relativ unberührt bleiben. Zeitlosigkeit und Design lassen sich jedoch schlecht miteinander verbinden. In den Begriff, welcher hinter dem Wort 'Design' steckt, ist notwendigerweise zeitbezogene Mentalität eingebunden.
In diesem Fall kann Gestaltung nicht losgelöst von Mode, Zeitgeist und Trend funktionieren?
Eher Gestaltung, nicht so sehr Design. Design ist zeitbezogen. Der Anspruch, den ich an meine Gestaltung stelle, ist genau dieser: Jenseits von Mode und Trend. Ein generationsspezifischer Hang zum Unmöglichen – die 68er – kommt damit zum Ausdruck, eine unausgesprochene, eine geheime Unbescheidenheit. Das forciert jedoch, bewegt.
Was würde das Schaffen zeitloser Gestaltung denn erstrebenswert machen?
Dass man vom Innovationswahn, vom Mobilitätswahn und vom Kommunikationswahn wegkäme, die momentan alle infiltrieren. Es ginge darum, dem Verschleiss von Innovation und Schöpfung den Riegel schieben. Ab und zu erscheinen wunderbare Artikel in der Zeitung, brillant formuliert, für einen Tag geschrieben, dann verschwinden sie im Kübel. Es gibt bewunderungswürdiges Zeugs in der Werbebranche, es gibt bezaubernde Komik, Spots, die ein paarmal gesendet werden und dann verschwinden. Was soll's? Das ist ein riesiger Verschleiss an imaginativem Potential, der hingenommen wird wie das Wetter.
Eine Wegwerfgesellschaft…
Wegwerfen? Ja. Menschen, Kompetenz, alles wird so zerbraucht. Hässlich ist das, scheusslich.
Gleichzeitig gibt es uns aber auch Arbeit.
Ja, auf Grund einer recht fehlerhaften Ordnung des Wirtschaftens und des Zusammenlebens.
Was sind die Hauptfunktionen von Design?
Die gegenwärtige Meinung betrachtend, ist Design in erster Linie ein Mittel, den Umsatz zu steigern. Die zentrale Frage lautet: Wie muss ein Produkt beschaffen sein, damit es gekauft wird? Signale zweckbezogener emotionaler Zuwendung und Gebrauchswertversprechen – ob sie eingehalten werden ist eine andere Frage – sind von Belang.
Ist das auch Deine Auffassung?
Nein, klar nicht. Ich denke, Produkte sollten so gestaltet sein, dass sie eine Vereinfachung der erfahrenen Lebenswelten nach sich ziehen und eine Poesie des Alltags nicht vorwegnehmen, sondern erst ermöglichen.
Sollte Gestaltung selbsterklärend sein?
Ja, schon. Ich halte viel von Gegenständen, die das zum Ausdruck bringen, was sie sind. Also eine Kaffeemaschine, die als Sonnenblume daherkommt, halte ich nicht für erstrebenswert – obwohl ich nichts gegen Sonnenblumen habe, ganz im Gegenteil.
Schränkt das nicht auch die gestalterischen Möglichkeiten stark ein?
Ja natürlich. Über das sind wir ja froh. Es gibt von
allem viel zu viel, es gibt viel zu viele Möglichkeiten. – Das Problem der Kontingenz ist ein zivilisatorisches Problem der westlichen Welt.
Was versteht das Publikum von Gestaltung?
In einer Gesellschaft der Massenkommunikation ist das Publikum in der Regel durch Medien, Bilder, Trends infiltriert. Wenn es den Menschen gelingen würde, diese teilweise zur Seite zu schieben und ihre ureigensten Bedürfnisse zu aktivieren, dann wäre vieles besser bestellt. Das ist im Rahmen des Modells zwar denkbar, darüber hinaus jedoch kaum zu realisieren.
Haben denn Gestalterinnen und Gestalter ihr ureigenstes Bedürfnis nach Schönheit aktiviert?
Nein, nein. Designerinnen sind dem Besagten ebenso ausgesetzt. Aber es kann bei uns ein Bestreben deutlich werden, das Bessere zu verfolgen. Was immer auch 'Schönheit' heissen mag: Wir hantieren hier zu eilfertig mit den Wörtern.
Findest Du, dass die heutige Gestaltung einen Bezug zum Normalverbraucher hat? Oder hat Gestaltung die Beziehung zum Publikum verloren?
'Gestaltung' ist ein Auslaufmodell, die Beziehung zwischen Publikum und Design hingegen ist momentan in einem hohen Mass gegeben. Zunehmend mehr Kanäle der Propaganda stehen zur Verfügung, die über Design berichten. Das kommt zum Ausdruck, wenn von Designer-Möbeln, Designer-Kleidern, und so weiter geredet wird.
Hinz zu Kunz: "Was ist denn das für ein komisches Ding?" Kunz zu Hinz: "Weisst du, das ist ein Designer-Sessel." Hinz zu Kunz: "Ah ja, alles klar."
Jetzt sind wir fertig, ausser Du hast noch eine Frage, die Du Dir selber gestellt hättest?
Nein, nein, ich möchte mir jetzt keine weiteren Fragen stellen. (Lächelt)
In dem Fall danke ich Dir für das Gespräch.
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© David Clavadetscher, 2003.